Zitierung: BVerfG, 1 BvR 347/98 vom 6.12.2005, Absatz-Nr.
(1 - 69),
http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20051206_1bvr034798.html
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L e i t s a t z
zum Beschluss des Ersten Senats
vom 6. Dezember 2005
- 1 BvR 347/98 -
Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht
vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche
oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte,
medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht,
von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode
auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung
oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 347/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn F...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Berner, Fischer & Partner,
Andreaswall 2, 27283 Verden -
gegen
das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat ñ unter Mitwirkung
des Präsidenten Papier,
der Richterin Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt,
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde,
Gaier
am 6. Dezember 2005 beschlossen:
1 Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95
- verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1
des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel
2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird
an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.
2 Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen
Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung
für so genannte neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen
oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der ambulanten
ärztlichen Versorgung.
1
I.
1. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, der gegenwärtig
etwa 62 Millionen Menschen als Pflichtversicherte und knapp neun Millionen
Menschen als freiwillige Versicherte angehören, beruht auf dem Grundkonzept,
dass Menschen bei Eintritt von Krankheit unabhängig von der Höhe ihrer
am Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge
eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung erhalten. Die Versicherten tragen
gemeinschaftlich das sich individuell entfaltende Risiko der Krankheit. Ihnen
wird nach dem die gesetzliche Krankenversicherung prägenden Sachleistungsprinzip
ein Anspruch auf Gewährung freier ärztlicher Behandlung gewährt.
2
Die für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebliche
Vorschrift des § 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V)
in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S. 1046) hat, soweit hier
von Interesse, folgenden Wortlaut:
3
Leistungen
4
(1) Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten
Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur
Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten
zugerechnet werden. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen
Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen. Qualität und Wirksamkeit
der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.
5
(2) Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen,
soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen. Über die
Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen
nach den Vorschriften des Vierten Kapitels Verträge mit den Leistungserbringern.
6
(3) und (4) ...
7
Zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V führt die Gesetzesbegründung
(BTDrucks 11/2237, S. 157) aus:
8
Der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Kenntnisse" schließt
Leistungen aus, die mit wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden erbracht
werden. Neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt sind, oder Außenseitermethoden
(paramedizinische Verfahren), die zwar bekannt sind, aber sich nicht bewährt
haben, lösen keine Leistungspflicht der Krankenkasse aus. Es ist nicht
Aufgabe der Krankenkassen, die medizinische Forschung zu finanzieren. Dies gilt
auch dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder
Linderung der Krankheitsbeschwerden führen.
9
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte
Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit. § 27 Abs. 1
Satz 1 SGB V bestimmt im Zusammenhang mit den Vorschriften, die diesen
Leistungsanspruch konkretisieren, dass Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung
haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach
§ 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V gehört zur Krankenbehandlung
unter anderem die ärztliche Behandlung (Nr. 1). Die ärztliche
Behandlung umfasst die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung
und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend
und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
10
Nach dem in § 12 Abs. 1 SGB V geregelten Wirtschaftlichkeitsgebot
müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich
sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte
nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die
Krankenkassen nicht bewilligen. Dem entspricht, soweit es um die Beziehungen
zwischen den Krankenkassen und den Ärzten als Leistungserbringern geht,
§ 70 SGB V. Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die
Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit
es das SGB V oder das SGB IX vorsehen. § 13 Abs. 3
Satz 1 SGB V trifft eine für den vorliegenden Fall wichtige Regelung
zur Kostenerstattung. Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung
nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt
und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten
entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu
erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Mit der Durchbrechung des Sachleistungsgrundsatzes
trägt § 13 Abs. 3 SGB V dem Umstand Rechnung, dass
die gesetzlichen Krankenkassen eine umfassende Versorgung ihrer Mitglieder sicherstellen
müssen (vgl. BSGE 81, 54 <56>).
11
2. a) Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V beschließt
der Gemeinsame Bundesausschuss, der seit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung vom 14. November 2003 (BGBl I S. 2190) an die Stelle
der bisherigen, im Zeitpunkt der hier angegriffenen Entscheidung des Bundessozialgerichts
zuständigen Bundesausschüsse getreten ist, die zur Sicherung der ärztlichen
Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine
ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten.
Er wird durch die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft,
die Bundesverbände der Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See
und die Verbände der Ersatzkassen gebildet (§ 91 Abs. 1
Satz 1 SGB V). Nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5
SGB V soll er Richtlinien beschließen über die Einführung
neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Dafür sieht § 135
Abs. 1 SGB V ein besonderes Verfahren vor. Die Vorschrift lautet wie
folgt:
12
Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen
und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht
werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag einer Kassenärztlichen
Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes
der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2
Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über
13
1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen
Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch
im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach
dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung,
14
2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen
sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine
sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und
15
3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.
16
Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft die zu Lasten der Krankenkassen
erbrachten vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Leistungen
daraufhin, ob sie den Kriterien nach Satz 1 Nr. 1 entsprechen. Falls
die Überprüfung ergibt, dass diese Kriterien nicht erfüllt werden,
dürfen die Leistungen nicht mehr als vertragsärztliche oder vertragszahnärztliche
Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden.
17
b) Gegenwärtig gilt die "Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden" (BUB-Richtlinie) in der Fassung vom 1. Dezember
2003. Sie ist am 23. März 2004 veröffentlicht worden (Bundesanzeiger
Nr. 57) und am 24. März 2004 in Kraft getreten. In verschiedenen Anlagen
werden einerseits die anerkannten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (Anlage A)
und andererseits die Methoden aufgelistet, die nicht als vertragsärztliche
Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen (Anlage B).
Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiert Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden als neu, wenn sie noch nicht als abrechnungsfähige
ärztliche Leistungen im "Einheitlichen Bewertungsmaßstab für
die ärztlichen Leistungen" (EBM) enthalten sind. Er ist Bestandteil
der Bundesmantelverträge nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V
und enthält ein abgeschlossenes Leistungsverzeichnis. Nur die dort genannten
Leistungspositionen können von den Ärzten mit der Kassenärztlichen
Vereinigung abgerechnet werden.
18
c) Für das Recht des SGB V vertritt das Bundessozialgericht in inzwischen
ständiger Rechtsprechung (vgl. BSGE 78, 70 <75 ff.>; 81, 54
<59 ff.>) die Auffassung, das Gesetz inkorporiere die Richtlinie
unmittelbar in den Bundesmantelvertrag und die Gesamtverträge. Die Vorschriften
des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V über das Leistungserbringungsrecht
und die leistungsrechtliche Vorschrift des § 12 Abs. 1 SGB V
stünden in einem unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang. Die Richtlinie
binde den Vertragsarzt, präzisiere aber auch den Umfang der Leistungspflicht
der Krankenkassen gegenüber den Versicherten. Der Umfang der zu gewährenden
Krankenversorgung im Verhältnis von Versicherten zu Krankenkassen sei kein
anderer als im Verhältnis der ärztlichen Leistungserbringer zu den
Kassenärztlichen Vereinigungen und wiederum zu den Krankenkassen. Gemäß
§ 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts steht gesetzlich Krankenversicherten ein Leistungsanspruch
auf neue medizinische Behandlungsmethoden gegen ihre Krankenkasse nur dann zu,
wenn der zuständige Bundesausschuss (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss)
die jeweilige Methode "zugelassen" hat. Daran sind die Gerichte der
Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Grundsätzlich dürfen sie nach der
höchstrichterlichen Rechtsprechung im einzelnen Leistungsfall nur dann
prüfen, ob eine neue Behandlungsmethode medizinisch notwendig, zweckmäßig
und wirtschaftlich ist, wenn im Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesausschuss
Fehler aufgetreten sind, die ein so genanntes Systemversagen begründen.
19
II.
1. Der im Juli 1987 geborene Beschwerdeführer war im streitgegenständlichen
Zeitraum von 1992 bis 1994 in der Barmer Ersatzkasse als Familienangehöriger
(§ 10 SGB V) versichert. Er leidet an der Duchenne'schen Muskeldystrophie
(englische Abkürzung: DMD). Es handelt es dabei um eine so genannte
progressive Muskeldystrophie. Darunter werden sehr variable Muskelerkrankungen
zusammengefasst, die durch einen pathologischen Umbau des Gewebes mit erheblichen
Funktionsstörungen gekennzeichnet sind. Die DMD ist die häufigste
Form der progressiven Muskeldystrophien. Sie wird x-chromosomal-rezessiv vererbt. DMD
tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf, und zwar mit
einer Häufigkeit von 1 zu 3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den
ersten Lebensjahren; ihr prognostizierter Verlauf ist progredient. Mit dem Verlust
der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem zehnten und zwölften
Lebensjahr zu rechnen; es tritt zunehmende Ateminsuffizienz auf. Die Krankheit
äußert sich auch in Wirbelsäulendeformierungen, Funktions- und
Bewegungseinschränkungen von Gelenken sowie in Herzmuskelerkrankungen.
Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt. Die Krankheit geht nach den
heutigen Erkenntnissen auf das Dystrophin-Gen zurück. Üblicherweise
wird nur eine symptomorientierte Behandlung (Cortisonpräparate, Operationen,
Krankengymnastik) durchgeführt. Bislang gibt es keine wissenschaftlich
anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung
des Krankheitsverlaufs bewirken kann (vgl. http://www.duchenne-forschung.de/richtli1.htm).
20
Seit September 1992 befindet sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei
Dr. B., Facharzt für Allgemeinmedizin, der über keine Zulassung zur
vertragsärztlichen Versorgung verfügt. Bei dieser Behandlung werden
neben Thymuspeptiden, Zytoplasma und homöopathischen Mitteln hochfrequente
Schwingungen ("Bioresonanztherapie") angewandt. Bis Ende 1994 hatten
die Eltern des Beschwerdeführers dafür einen Betrag von 10.000 DM
aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule
A. hielten den bisherigen Krankheitsverlauf für günstig. Seit Herbst
2000 ist der Beschwerdeführer, der eine öffentliche Schule besucht,
auf einen Rollstuhl angewiesen, zunächst für Wegstrecken außerhalb
des Hauses, seit Frühjahr 2001 aber auch im Haus. Eine mitbetreuende Ärztin
stufte seinen Gesundheitszustand trotz des Verlustes der Gehfähigkeit im
Vergleich zu anderen Betroffenen als gut ein.
21
2. Der Antrag auf Übernahme der Kosten für die Therapie bei Dr. B.
wurde von der zuständigen Krankenkasse abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren
hat die Krankenkasse Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
Niedersachsen eingeholt. Die Kinderärztin Dr. F. vertrat in ihrer Stellungnahme
nach Aktenlage die Auffassung, Muskeldystrophien seien nicht heilbar, aber behandelbar.
Ein Therapieerfolg der von Dr. B. angewandten Methoden sei wissenschaftlich
nicht nachgewiesen. Nach Auffassung der Fachärztin für Neurologie,
Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. W.-V. überwog im damaligen Stadium der
Erkrankung die altersbedingte motorische Weiterentwicklung gegenüber dem
progredienten Krankheitsverlauf. Die Behandlung durch Dr. B. sei für
die Besserung des Zustandes nicht kausal.
22
3. Die gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts eingelegte Berufung
hatte Erfolg (NZS 1996, S. 74). Das Landessozialgericht holte einen Befundbericht
bei der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. ein, bei der
sich der Beschwerdeführer in regelmäßigen Abständen vorstellt.
Die Klinik empfahl, die Therapie wegen der günstigen Verlaufsform fortzusetzen.
Ferner hörte das Gericht den behandelnden Arzt Dr. B. in der mündlichen
Verhandlung als sachverständigen Zeugen. Das Landessozialgericht hob das
Urteil des Sozialgerichts auf und verurteilte die beklagte Krankenkasse, dem
Beschwerdeführer die ab März 1993 entstandenen Kosten für die
Therapie des Dr. B. zu erstatten. Das SGB V sehe keine Begrenzung
des Leistungsanspruchs des Versicherten auf die Schulmedizin vor. Aus § 2
Abs. 1 Satz 3 SGB V folge, dass ein gewisser Qualitätsstandard
gewahrt sein müsse. Auf den allgemein anerkannten Stand der schulmedizinischen
Erkenntnisse komme es aber nicht an. Ansonsten würde durch § 2
Abs. 1 Satz 3 SGB V die grundsätzliche Einbeziehung der
besonderen Therapierichtungen in die Versorgung weitgehend in Frage gestellt.
Maßgeblich könne nur sein, ob die besondere Therapierichtung nach
ihrem eigenen Denkansatz plausibel sei. Dies sei hier der Fall.
23
Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (im Folgenden:
Bundesausschuss), die damals gegolten haben, seien nicht geeignet, den Leistungsanspruch
des Versicherten zu definieren. Der Ausschuss habe nicht die Kompetenz, das
Leistungsrecht zu regeln. Dafür fehle es bereits an der gesetzlichen Ermächtigung.
Die im Leistungserbringungsrecht vorgesehenen Institutionen könnten das
Leistungsrecht schon deswegen nicht konkretisieren, weil deren Vorschriften
keine Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten besäßen. Darüber
hinaus habe der Ausschuss über drei der vier von Dr. B. zu einem Gesamtkonzept
verbundenen Einzeltherapien keine Stellungnahme abgegeben. Die Auffassung, der
Versicherte könne nur die Leistungen beanspruchen, über die der Ausschuss
positiv entschieden habe, finde im Gesetz keine Stütze. Soweit der Ausschuss
das Bioresonanzverfahren mit der Begründung abgelehnt habe, es handle sich
dabei um "Mystik", stelle dies kein akzeptables Ergebnis einer ernst
zu nehmenden wissenschaftlichen Diskussion dar. Eine die Therapie des Beschwerdeführers
ausschließende Leistungsbegrenzung wäre im Übrigen auch verfassungswidrig.
24
4. Auf die von der beklagten Krankenkasse eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht
das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil
des Sozialgerichts zurückgewiesen (BSGE 81, 54).
25
Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V für die Erstattung
der Kosten der als einheitliches Behandlungskonzept einzustufenden, aber nicht
den bekannten besonderen Therapierichtungen (Homöopathie, Anthroposophie,
Phytotherapie) zuzurechnenden Therapie durch Dr. B. seien nicht erfüllt,
weil die Krankenkasse die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt habe. Ein Kostenerstattungsanspruch
könne nur insoweit bestehen, als die zur Anwendung gekommene Untersuchungs-
oder Behandlungsmethode zu den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten
Leistungen gehöre.
26
Das sei aber nicht der Fall. Dass die in Streit stehenden Behandlungen nicht
zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung gehörten, ergebe
sich aus § 135 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den Richtlinien
des Bundesausschusses über die Einführung neuer Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden, wie sie damals gegolten haben. Für neue Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden sehe § 135 Abs. 1 SGB V eine Art
Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vor. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
seien so lange von der Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse ausgeschlossen,
bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt habe. Bei der
streitgegenständlichen Therapie handle es sich um eine neue Behandlungsmethode.
Die hier angewandte Therapie - das Bundessozialgericht bezeichnet sie als immunbiologische
Therapie - sei bisher nicht Bestandteil des vertragsärztlichen Leistungsspektrums
gewesen. Eine vorherige Anerkennung durch den Bundesausschuss liege bezüglich
dieser Therapie nicht vor.
27
Dem stehe nicht entgegen, dass sich § 135 Abs. 1 SGB V vordergründig
nicht mit dem Verhältnis zwischen Versicherten und Krankenkassen befasse.
Der systematische Zusammenhang zwischen Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht
führe dazu, dass das Leistungsrecht gegenüber dem Leistungserbringungsrecht
nicht vorrangig sei. Die Regelungen im Leistungsrecht gewährten nur Rahmenrechte.
Ein unmittelbar durchsetzbarer Anspruch werde nicht begründet. Das Rahmenrecht
werde durch den Arzt konkretisiert, dessen Handlungsspielraum seinerseits durch
die gesetzlichen Regelungen und damit auch durch die Richtlinien des Bundesausschusses
abgesteckt werde. Die Vorschriften des Vertragsarztrechts einschließlich
der Richtlinien des Bundesausschusses bestimmten den Leistungsanspruch für
Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte gleichermaßen verbindlich.
Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sei es nicht zu beanstanden, dass § 135
Abs. 1 SGB V die für die vertragsärztliche Behandlung freigegebenen
neuen Methoden nicht selbst nenne, sondern insoweit auf die Richtlinien verweise.
Diese seien nunmehr in die Bundesmantelverträge und die Gesamtverträge
über die vertragsärztliche Versorgung eingegliedert und nähmen
an deren normativer Wirkung teil. Für die vertragsunterworfenen Krankenkassen
und Vertragsärzte setzten sie unmittelbar verbindliches, außenwirksames
Recht. Die im Schrifttum dagegen geäußerten verfassungsrechtlichen
Einwände teile das Gericht nicht.
28
Angesichts der Verbindlichkeit der Richtlinien auch im Verhältnis zum Versicherten
sei dem Versicherten, der sich eine vom Bundesausschuss nicht empfohlene Behandlung
auf eigene Rechnung beschaffe, im Kostenerstattungsverfahren der Einwand abgeschnitten,
die Methode sei gleichwohl zweckmäßig und in seinem konkreten Fall
wirksam gewesen oder lasse einen Behandlungserfolg zumindest als möglich
erscheinen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn ein Systemmangel vorliege. Davon
sei insbesondere auszugehen, wenn der Bundesausschuss innerhalb vertretbarer
Zeit noch keine Stellungnahme zu einer Behandlungsmethode abgegeben habe, etwa
weil er eine solche aus willkürlichen Erwägungen blockiere oder verzögere.
Anhaltspunkte dafür bestünden im vorliegenden Fall nicht.
29
Allerdings habe der Beschwerdeführer bislang keine Gelegenheit gehabt,
hierzu Stellung zu nehmen, weil es nach der bisherigen Rechtsauffassung des
Bundessozialgerichts darauf nicht angekommen sei. Eine Zurückverweisung
an das Berufungsgericht sei jedoch entbehrlich, weil bereits jetzt davon ausgegangen
werden könne, dass die Methode von Dr. B. nicht dem allgemein anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Für die immunbiologische
Therapie lägen Wirksamkeitsnachweise nicht vor. Allerdings stoße
ein Wirksamkeitsnachweis für eine Behandlung der DMD auf erhebliche
Schwierigkeiten. Letztlich könne der Verlauf der Krankheit weder erklärt
noch gezielt beeinflusst werden; nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse komme bestenfalls eine symptomatische Behandlung in Frage. Beschränkten
sich die Einwirkungsmöglichkeiten anerkannter Behandlungsmethoden wie hier
auf eine mehr oder weniger vorübergehende und nur begrenzt objektivierbare
Unterdrückung der Krankheitssymptome, genüge es nicht, sich zur Ablehnung
der Kostenerstattung für noch nicht empfohlene Methoden auf den fehlenden
oder mangelhaften Wirksamkeitsnachweis zu berufen. Maßstab könne
dann nur entweder die naturwissenschaftlich-medizinische Prüfung oder die
Bewertung der Methode durch die Verwaltung und die Gerichte sein oder die Feststellung,
ob der neuen Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein solches
Gewicht zukomme, dass eine Überprüfung und Entscheidung durch den
Bundesausschuss veranlasst gewesen wäre.
30
Dieser letztgenannte Prüfungsansatz richte sich nicht an medizinischen
Kategorien aus, sondern an der tatsächlichen Verbreitung in der Praxis
und in der fachlichen Diskussion. Daran sei hier anzuknüpfen. Es könne
nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens sein, die Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen
Position zu beziehen. Eine Behandlungsmethode sei dann erstattungsfähig,
wenn sie in der medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden habe
und von einer erheblichen Anzahl von Ärzten angewandt werde. Die von Dr.
B. eingesetzte Behandlungsmethode erfülle diese Voraussetzungen nicht.
31
5. Gegen dieses Urteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer
rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 sowie von Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1
und Art. 103 Abs. 1 GG.
32
Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unterlägen dem Eigentumsschutz
des Art. 14 GG. Sie seien ein Äquivalent eigener Arbeit und Leistung.
Aus Art. 14 Abs. 1 GG folge ein verfassungsrechtlich garantierter
Anspruch des Versicherten auf Gewährung von Krankenbehandlung im Fall von
Krankheit. Die Regelungen des SGB V seien als Inhaltsbestimmung zu sehen.
§ 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V
begrenzten die Leistungsansprüche auf solche Behandlungen, die nach Qualität
und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
entsprächen und darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot beachteten.
Weiter gehende Einschränkungen durch die Richtlinien des Bundesausschusses
seien nicht möglich. Eine entsprechende normative Wirkung lasse sich weder
einfach-rechtlich noch verfassungsrechtlich begründen.
33
Somit dürfe das Begehren des Beschwerdeführers nur am Maßstab
des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V gemessen werden. Dabei
sei der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen
Therapierichtung maßgeblich. Das Landessozialgericht habe in seinem Urteil,
an dessen tatsächliche Feststellungen das Bundessozialgericht gebunden
sei, festgestellt, dass die Behandlung des Beschwerdeführers über
eine solche so genannte Binnenanerkennung verfüge. Aus Art. 2 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG resultiere das Recht des Beschwerdeführers,
selbstbestimmt über seine Behandlung zu entscheiden. Da die Richtlinien
des Bundesausschusses nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörten,
könne ein Leistungsanspruch nicht von einer Anerkennung durch sie abhängig
gemacht werden. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge, dass bei der
Ausfüllung des Rahmenrechts auf Krankenbehandlung solche Maßnahmen
zu berücksichtigen seien, die zumindest geeignet seien, die Verschlimmerung
einer Krankheit zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das
treffe nach den Feststellungen des Landessozialgerichts auf die Behandlung des
Beschwerdeführers zu.
34
Auch sei Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Soweit nunmehr das Bundessozialgericht
auch auf die Verbreitung der Methode abstelle, sei dies für den Beschwerdeführer
völlig überraschend gewesen. Da die Kriterien in dem Urteil erstmals
festgelegt worden seien, hätten weder das Berufungsgericht noch er selbst
Veranlassung gehabt, dazu Stellung zu nehmen. Der Rechtsstreit hätte daher
zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen
werden müssen.
35
III.
Zur Verfassungsbeschwerde haben die Bundesregierung, der AOK-Bundesverband,
die Barmer Ersatzkasse als Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Verband der
privaten Krankenversicherung Stellung genommen. Der Bundesausschuss und der
Gemeinsame Bundesausschuss haben ihnen vom Bundesverfassungsgericht gestellte
Fragen beantwortet.
36
1. Die Bundesregierung sieht sowohl die bedarfsgerechte Verteilung der begrenzten
Mittel als auch die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung
gefährdet, wenn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen
Versorgung anerkannt würden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt
sei. Mit § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V verfolge das Gesetz
neben dem gesundheitspolitischen Ziel der Qualitätsverbesserung insbesondere
das finanzpolitische Ziel der Kostendämpfung. Nur bei dessen konsequenter
Verfolgung sei gewährleistet, dass allen Versicherten eine dem medizinisch-technischen
Fortschritt entsprechende medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt
werden könne. Es dürfe nicht sein, dass die Solidargemeinschaft der
Versicherten mit den Kosten einer Behandlung belastet würde, deren medizinischer
Nutzen nicht belegt sei.
37
Das gelte auch dann, wenn die Wirksamkeit im Einzelfall nachgewiesen oder zumindest
sehr wahrscheinlich sei. Bei der Bewertung eines lediglich im Einzelfall eingesetzten
Verfahrens könne eine positive Veränderung sowohl wegen als auch trotz
der ergriffenen Maßnahme eingetreten sein; es sei nicht möglich,
beobachtete Wirkungen auf die durchgeführte Maßnahme zurückzuführen.
Jede Aussage über die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode erfordere einen
Vergleich; denn nur so lasse sich beurteilen, ob der beobachtete klinisch relevante
Effekt auf die medizinische Intervention zurückzuführen oder ob er
als Spontanverlauf oder Placebo-Effekt zu werten sei. Eine solche Einzelfallbetrachtung
würde in eine Therapiebeliebigkeit münden.
38
2. Nach Auffassung des AOK-Bundesverbands, der sich auch im Namen der übrigen
Spitzenverbände der Krankenkassen geäußert hat, verletze die
angegriffene Entscheidung des Bundessozialgerichts den Beschwerdeführer
weder in Grundrechten noch in grundrechtsähnlichen Rechten.
39
Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebe sich kein verfassungsrechtlicher
Anspruch gegen die Krankenkasse auf Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen.
Zwar folge aus ihm eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, sich schützend
und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG zu stellen. Angesichts des weiten Gestaltungsspielraums bei der Erfüllung
der Schutzpflichten könne aber nur geprüft werden, ob die öffentliche
Gewalt Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte treffe, die nicht völlig
ungeeignet oder unzulänglich seien.
40
Die Richtlinien des Bundesausschusses beschränkten den Leistungsanspruch
des Versicherten nicht, sondern konkretisierten ihn lediglich. Unmittelbar aus
dem Gesetz ergebe sich kein Leistungsanspruch. Dieser werde in den meisten Fällen
erst durch die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossenen
Verträge und Richtlinien konkret ausgestaltet. § 135 Abs. 1
SGB V gestalte unmittelbar das Leistungsrecht. Das Bundessozialgericht
gehe in der angegriffenen Entscheidung gerade nicht davon aus, die Richtlinien
des Bundesausschusses verkörperten Akte autonomer Rechtsetzung im Rahmen
einer Satzungsautonomie. Vielmehr qualifiziere es sie als untergesetzliche Rechtsnormen
und damit als materielles Recht eigener Art. Einen numerus clausus zulässiger
Rechtsetzungsformen sehe das Grundgesetz nicht vor. Weitere Typen untergesetzlicher
Rechtsnormen seien jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen zulässig;
zu ihnen gehörten auch die Richtlinien des Bundesausschusses. Sie seien
Teil eines historisch gewachsenen umfassenden Gefüges untergesetzlicher
Normen der gemeinsamen Selbstverwaltung zwischen Krankenkassen und Ärzten,
dessen Wurzeln bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurückreichten.
41
3. Die Barmer Ersatzkasse sieht den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten
oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Der Bundesausschuss sei paritätisch
mit Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen, zwei weiteren unparteiischen
Mitgliedern sowie einem ebenfalls unparteiischen Vorsitzenden besetzt. Die Prüfung
von Behandlungsmethoden, die bisher noch nicht Gegenstand der vertragsärztlichen
Versorgung gewesen seien, erfolge unter Berücksichtigung des allgemein
anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnis. Eine Ablehnung durch den Bundesausschuss
bedeute zugleich auch, dass die abgelehnte Außenseitermethode nicht zur
notwendigen Krankenbehandlung gehöre, so dass die Versicherten nach Maßgabe
des § 27 SGB V keinen Anspruch gegenüber der Krankenkasse
hätten. Die Richtlinien stellten somit außenwirksames Recht dar.
Der Bundesausschuss sei hierfür auch verfassungsrechtlich ausreichend legitimiert.
42
4. Nach Auskunft des Verbandes der privaten Krankenversicherung sind in der
privaten Krankenversicherung, sowohl in der Voll- als auch in der Zusatzversicherung,
nach den einschlägigen Musterbedingungen Kosten alternativer Behandlungsmethoden
in jedem Krankheitsfall dann erstattungsfähig, wenn sie sich in der Praxis
als ebenso Erfolg versprechend bewährt hätten wie schulmedizinische
Verfahren und wenn die Alternativmethode keine höheren Kosten verursache.
Darüber hinaus seien die Kosten alternativer Behandlungsmethoden dann zu
erstatten, wenn es sich um unheilbare Erkrankungen handle, für die keine
schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stünden.
Dies dürfte nach Einschätzung des Verbandes nur vergleichsweise selten
der Fall sein, weil die schulmedizinischen Behandlungsformen nicht nur die Heilung,
sondern auch die Linderung, Besserung und Verhinderung einer Verschlechterung
umfassten. Im Übrigen müsse auch die Heilbehandlung nach alternativen
Methoden auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz
beruhen, der die prognostizierte Wirkungsweise auf das angestrebte Behandlungsziel
zu erklären vermöge. Dabei reiche es aus, wenn die Erreichung des
Behandlungsziels mit einer nicht nur ganz geringen Erfolgsaussicht möglich
erscheine.
43
Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen sei der Versicherungsnehmer nachweispflichtig.
Dabei dürfte die Berufung auf die "Binnenanerkennung" abzulehnen
sein, weil mit diesem Verfahren die medizinische Wirksamkeit und Notwendigkeit
jeder neuen Alternativmethode zwangsläufig bejaht würde. Vielmehr
müsse eine objektive Bewertung der Erforderlichkeit möglich sein und
die medizinische Notwendigkeit einer Heilbehandlung vom Standpunkt der Schulmedizin
aus beurteilt werden. Dabei seien noch nicht abschließend gesicherte Erkenntnisse
mit zu berücksichtigen. Neben den üblichen Versicherungen gebe es
im Übrigen Spezialtarife, die bestimmte Leistungen aus dem Spektrum der
besonderen Therapierichtungen ausdrücklich zusagten.
44
5. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben auf die Fragen
des Bundesverfassungsgerichts eingehend geantwortet und insbesondere ausgeführt:
Eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung in Fällen,
in denen eine nicht allgemein wissenschaftlich anerkannte Methode im konkreten
Fall Wirkung zeige, werde nicht befürwortet. Der Wirkungsnachweis im Einzelfall
sei nicht zu führen. Der vermeintliche Erfolg einer Therapie stelle sich
oftmals nur als positive Krankheitsentwicklung heraus, die kurze Zeit später
durch einen Rückfall in die alten Leiden beendet werde. Selbst wenn eine
Krankheit als ausgeheilt gelten könne, sei es nicht möglich nachzuweisen,
dass der Heilerfolg auf die gewählte Behandlungsmethode zurückzuführen
sei. Das liege daran, dass Krankheiten in vielen Fällen in einem nicht
vorhersehbaren
oder rekonstruierbaren Spontanverlauf heilten. Bekannt sei auch die Wirkung
von Behandlungen ohne medizinisch-physischen Ursachenzusammenhang (Placebo-Effekt).
45
Würde sich die Ansicht durchsetzen, die Krankenkassen seien auch bei Wirkung
einer Methode im Einzelfall zur Kostentragung verpflichtet, sähe man sich
mit dem Grundproblem konfrontiert, dass sich die Wirkung einer Therapie allenfalls
ex post feststellen lasse, Arzt und Patient aber vor dem Behandlungsbeginn die
geeignete Therapie bestimmen müssten. Eine Kostenerstattung aufgrund eines
Wirksamkeitsnachweises im Einzelfall würde die medizinisch unverantwortliche
Entscheidung für unerforschte, riskante Methoden mit geringer Wirkungswahrscheinlichkeit
bei Auftreten eines eher zufälligen Behandlungserfolgs belohnen. Zudem
wäre der Patient, bei dem die Methode zufällig nicht angeschlagen
habe, finanziell benachteiligt. Des Weiteren würden unkontrollierte Heilversuche
zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterstützt. Schließlich
würde eine Flut von Rechtsstreiten darüber ausgelöst, ob ein
Behandlungserfolg vorliege und was die Ursache für ihn gewesen sei.
46
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Bundessozialgerichts
beruht auf einer Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des § 1
Satz 1, § 2 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 1
Nr. 4 und § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, die mit Art. 2
Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1,
Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG nicht vereinbar ist.
47
I.
1. a) Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung
ist Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip.
48
Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist betroffen, wenn der Gesetzgeber
Personen der Pflichtversicherung in einem System der sozialen Sicherheit unterwirft
(vgl. BVerfGE 29, 221 <235 f.>; 29, 245 <254>; 29, 260 <266 f.>;
109, 96 <109 f.>; stRspr). Dies gilt auch für die Begründung
der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragszwang in der gesetzlichen Krankenversicherung.
49
Auch Regelungen, die das öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsverhältnis,
vor allem in Bezug auf die Beiträge der Versicherten und die Leistungen
des Versicherungsträgers, näher ausgestalten, sind am Grundrecht des
Art. 2 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 75, 108 <154>; 97,
271 <286 f.>; 106, 275 <304 f.>). Sein Schutzbereich wird
berührt, wenn der Gesetzgeber durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft
und Beitragspflicht in einem öffentlich-rechtlichen Verband der Sozialversicherung
die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung
ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich einengt (vgl. BVerfGE
97, 271 <286>). Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine
entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung, die
den Versicherten für deren Beitrag im Rahmen des Sicherungszwecks des Systems
zu erbringen ist. Für die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung
hat das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG als verfassungsrechtlichen
Maßstab herangezogen, wenn der Gesetzgeber gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte
Leistungen dieses Versicherungszweigs wesentlich vermindert (vgl. BVerfGE 97,
271 <286>). In Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung ist verfassungsgerichtlich
entschieden, dass eine gesetzliche Regelung das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit
des Versicherten berührt, wenn die Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und
Hilfsmitteln, die ihm als Sachleistung zur Verfügung gestellt werden, eingeschränkt
wird (vgl. BVerfGE 106, 275 <304 f.>).
50
Der in einem System der Sozialversicherung Pflichtversicherte hat typischerweise
keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe seines Beitrags und auf Art
und Ausmaß der ihm im Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistungen.
In einer solchen Konstellation der einseitigen Gestaltung der Rechte und Pflichten
der am Versicherungsverhältnis Beteiligten durch Gesetz (vgl. § 31
SGB I) und durch die auf ihm beruhenden Rechtsakte der Leistungskonkretisierung,
schützt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen
Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und
Leistung. Daraus lässt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar
kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung
ableiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse
und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2
Abs. 1 GG gerechtfertigt sind. Gleiches gilt, wenn die gesetzlichen Leistungsvorschriften
- wie hier - durch die zuständigen Fachgerichte eine für
den Versicherten nachteilige Auslegung und Anwendung erfahren.
51
b) Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion
des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip
maßgebliche Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von
Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe
des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung
der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung
für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung, Sorge
getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt
hat (vgl. BVerfGE 68, 193 <209>). In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips
richtet er die Beiträge an der - regelmäßig durch das Arbeitsentgelt
oder die Rente bestimmten - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des
einzelnen Versicherten (§ 226 SGB V) und nicht am individuellen
Risiko aus (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>), ist ferner auf Stabilität
der Beitragssätze bedacht (§ 71 SGB V), wirkt auf Beitragssenkungen
hin (§ 220 Abs. 4 SGB V) und nimmt auch bei der Ausgestaltung
der Verpflichtung zur Erbringung von Zuzahlungen zu gesetzlichen Leistungen
(vgl. § 61 SGB V) auf die soziale Situation des Einzelnen Rücksicht
(§ 62 SGB V). Damit geht der Gesetzgeber davon aus, dass den
Versicherten regelmäßig erhebliche finanzielle Mittel für eine
zusätzliche selbständige Vorsorge im Krankheitsfall und insbesondere
für die Beschaffung von notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb
des Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung
stehen.
52
In der sozialen Krankenversicherung sind abhängig Beschäftigte mit
mittleren und niedrigen Einkommen sowie Rentner pflichtversichert (vgl. BVerfGE
103, 172 <185>). Die gesetzliche Krankenversicherung erfasst nach der
gesetzlichen Typisierung jedenfalls die Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen
Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit bedürfen,
der durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden soll (vgl. BVerfGE 102, 68
<89>). Mit dieser Versicherungsform wird auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen
ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen ermöglicht
(vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung
vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn
dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere
einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung
durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und
Anwendung vorenthalten werden.
53
Dabei macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es um den Leistungsanspruch
eines Versicherten oder - wie hier - einer nach § 10 SGB V
mitversicherten Person (vgl. dazu BVerfGE 107, 205 <206 f.>) geht.
Der Beitrag wird zwar in diesem Fall vom Versicherten gezahlt, der dadurch jedoch
seiner Pflicht zum Unterhalt nachkommt, zu dem auch der Aufwand für einen
angemessenen Krankenversicherungsschutz gehört (vgl. BVerfGE 107, 205 <217>).
54
c) Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit
des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen
Auslegung und Anwendung im Einzelfall sind darüber hinaus auch die Grundrechte
auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher
Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere
spezieller Gesundheitsleistungen (vgl. BVerfGE 77, 170 <215>; 79, 174
<202>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5.
März 1997, NJW 1997, S. 3085; MedR 1997, S. 318 <319> und
vom 15. Dezember 1997, NJW 1998, S. 1775 <1776>). Die Gestaltung
des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich jedoch an
der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend
und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG zu stellen (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer
des Ersten Senats vom 15. Dezember 1997, a.a.O.; Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 22. November 2002, NJW 2003, S. 1236 <1237>;
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004,
S. 3100 <3101>). Insofern können diese Grundrechte in besonders
gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung
der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten
(vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. August 1998,
NJW 1999, S. 857 f.).
55
Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen
oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn das Leben stellt
einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar (vgl. BVerfGE
39, 1 <42>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. August
1999, NJW 1999, S. 3399 <3401>). Behördliche und gerichtliche
Verfahren müssen dieser Bedeutung und der im Grundrecht auf Leben enthaltenen
grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 <41>; BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004,
S. 3100 <3101>) gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung
der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts berücksichtigen
(vgl. BVerfGE 53, 30 <65>; zur Frage eines originären Leistungsanspruchs
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vgl. auch Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen
und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 23 ff.
m.w.N.).
56
2. a) Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die gesetzliche
Krankenversicherung den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen
Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots
(§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen
nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2
Abs. 1 Satz 1 SGB V). Gleiches gilt für die Entscheidung
des Gesetzgebers, die nähere Konkretisierung der durch unbestimmte Gesetzesbegriffe
festgelegten Leistungsverpflichtung im Einzelfall im Rahmen der kassenärztlichen
Vorgaben, insbesondere der kassenärztlichen Verträge (§§ 82 ff.,
87, 125, 127, 131 SGB V), vor allem den Ärzten vorzubehalten (vgl.
§ 15 Abs. 1 Satz 1 SGB V; BSGE 73, 271), die an der
vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen (§ 95 SGB V; vgl.
auch BVerfGE 106, 275 <277, 303, 308>). Dem Arzt kommt dabei nicht nur
die Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalls Krankheit zu, sondern
auch und gerade die von ihm zu verantwortende Einleitung, Durchführung
und Überwachung einer den Zielen des § 27 Abs. 1 SGB V
gerecht werdenden Behandlung (vgl. BSGE 82, 158 <161 f.>). Es steht
auch mit dem Grundgesetz im Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig
und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten
dürfen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
57
b) Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen
Erwägungen mitbestimmt sein (vgl. BVerfGE 68, 193 <218>; 70, 1 <26,
30>). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische
Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <184>). Dem
Gesetzgeber ist es im Rahmen seines Gestaltungsspielraums grundsätzlich
erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen
und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu
bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell
zugemutet werden kann (vgl. BVerfGE 70, 1 <30>; BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 1994, NJW 1994, S. 3007).
Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles
zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit
verfügbar ist (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten
Senats vom 5. März 1997, NJW 1997, S. 3085).
58
c) Es ist dem Gesetzgeber schließlich nicht von Verfassungs wegen verwehrt,
zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung, im Interesse einer
Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der Leistungen
am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung
auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihre medizinische
Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser
Methoden zu Lasten der Krankenkassen auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige
Grundlage zu stellen.
59
Ob für die Erfüllung dieser Aufgabe das nach § 135 SGB V
vorgesehene Verfahren der Entscheidung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss
verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100
<3101>), ist hier nicht zu entscheiden. Das Bundessozialgericht hat in
dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil zur Begründung seiner
Entscheidung im Ergebnis allein darauf abgestellt, dass die umstrittene Behandlungsmethode
nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Forschung entspreche
und keine erfahrungsgemäß wirksame Methode sei. Davon hat die verfassungsrechtliche
Beurteilung auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher keinen Anlass
zu prüfen, ob die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur demokratischen
Legitimation der Bundesausschüsse und des Gemeinsamen Bundesausschusses
und zur rechtlichen Qualität der von ihnen erlassenen Richtlinien als außenwirksamen
untergesetzlichen Rechtssätzen (vgl. dazu BSGE 78, 70 <74 ff.>;
81, 54 <59 ff.>; 81, 73 <76 ff.>) mit dem Grundgesetz
in Einklang steht (siehe dazu aus dem umfangreichen Schrifttum Axer, Normsetzung
der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 119 ff., 153 ff.;
Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 454 ff.;
Schnapp, in: von Wulffen/Krasney <Hrsg.>, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht,
2004, S. 497 ff.; Hase, MedR 2005, S. 391; Rixen, Sozialrecht
als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 176 ff., jeweils
m.w.N.).
60
3. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts genügt jedoch nicht
den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und verletzt den Beschwerdeführer
in seinem Recht auf eine Leistungserbringung durch die gesetzliche Krankenversicherung,
die dem Schutz seines Lebens gerecht wird.
61
a) Nicht zu entscheiden ist dabei, ob die Annahme des Bundessozialgerichts,
wegen des eindeutigen Wortlauts des § 135 Abs. 1 SGB V sei
die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode durch die Leistungserbringer im
System der gesetzlichen Krankenversicherung von der vorherigen Anerkennung durch
den Bundesausschuss abhängig (vgl. BSGE 81, 54 <57 ff.>; 86,
54 <56>; BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1), mit dem Grundgesetz
auch in den Fällen vereinbar ist, in denen die medizinische Wissenschaft
wegen der Eigenart der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen
Krankheit über eine wissenschaftlich gesicherte, an Gesichtspunkten der
statistischen Evidenz, gegebenenfalls auch niedrigerer Evidenzstufen bei seltenen
Krankheiten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3 der Verfahrensordnung
des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Fassung vom 20. September 2005), ausgerichtete
Therapie auf der Grundlage klinischer oder sonstiger Studien nicht oder noch
nicht verfügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten
Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Denn
das Bundessozialgericht stellt in Fällen, in denen - wie hier -
eine solche Anerkennung nicht vorliegt und auch kein Fall eines so genannten
Systemmangels (vgl. BSGE 81, 54 <65 f.>; 86, 54 <60 ff.>;
88, 51 <61 f.>) gegeben ist, entscheidend darauf ab, ob sich die
Methode in der medizinischen Praxis durchgesetzt hat. Ist dies nicht der Fall,
dann lehnt das Gericht, wie in der angegriffenen Entscheidung, die Annahme einer
gesetzlichen "Versorgungslücke" ab, die durch eine richterliche
Entscheidung im Einzelfall zu schließen wäre. Damit wird - wie
sich aus der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zeigt - die Übernahme
von Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer
lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheit ausgeschlossen,
für die eine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende
Behandlungsmethode nicht existiert (vgl. BSGE 86, 54 <66>), der behandelnde
Arzt jedoch eine Methode zur Anwendung bringt, die nach seiner Einschätzung
im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst.
62
b) Dies steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.
63
aa) Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen
Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen
des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung
gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen
oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für
die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung
einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen
und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten
gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht
ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare
positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Ein solcher Fall
ist hier gegeben. Für die Behandlung der Duchenne'schen Muskeldystrophie
steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Therapiespektrum zur Verfügung,
zu dem auch operative Maßnahmen gehören. Eine unmittelbare Einwirkung
auf die Krankheit und ihren Verlauf mit gesicherten wissenschaftlichen Methoden,
ist noch nicht möglich (vgl. http://www.duchenne-forschung.de/richtli1.htm).
64
bb) Die angegriffene Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V
durch das Bundessozialgericht ist in der extremen Situation einer krankheitsbedingten
Lebensgefahr auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu vereinbaren. Übernimmt der
Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für
Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die
Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig
tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich
der Leistungspflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten
Mindestversorgung (vgl. auch Wiedemann, in: Umbach/Clemens <Hrsg.>, Grundgesetz,
Bd. I, 2002, Art. 2 Rn. 376; Di Fabio, in: Maunz/Dürig,
Grundgesetz, Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 94 <Bearbeitungsstand:
Februar 2004>; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, S. 1689 <1691>).
65
c) Die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte haben in solchen
Fällen, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe, zu prüfen,
ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung
vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen
nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung oder auch nur auf eine spürbare
positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt (vgl.
auch Schulin, in: Schulin <Hrsg.>, Handbuch des Sozialversicherungsrechts,
Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 22). Solche Hinweise
auf einen individuellen Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand
des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand anderer, in gleicher Weise erkrankten,
aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben sowie
auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden
oder behandelt werden. Insbesondere bei einer länger andauernden Behandlung
können derartige Erfahrungen Folgerungen für die Wirksamkeit der Behandlung
erlauben. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit
der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu,
die die Symptome seiner Krankheit behandeln. Hinweise auf die Eignung der im
Streit befindlichen Behandlung können sich auch aus der wissenschaftlichen
Diskussion ergeben; in Bezug auf die Duchenne'sche Muskeldystrophie liegen inzwischen
weltweit Beiträge vor.
66
Auf die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im Einzelfall jedenfalls bei seltenen
Krankheiten abzustellen, ist auch dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
nicht fremd. Nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kann der
Vertragsarzt Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92
Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen
sind, ausnahmsweise dennoch in medizinisch begründeten Einzelfällen
verordnen. Auch das Bundessozialgericht hat sich in seiner jüngeren Rechtsprechung
bei einer Krankenbehandlung mit Arzneimitteln einer Einzelfallbetrachtung unter
bestimmten Voraussetzungen nicht verschlossen. Nach seiner Auffassung sind Maßnahmen
zur Behandlung einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische
Erforschung praktisch ausscheidet, vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung
nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der zuständige Bundesausschuss
dafür keine Empfehlung abgegeben hat (vgl. BSGE 93, 236 <244 ff.>).
67
II.
Da das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil gegen Verfassungsrecht
verstößt, ist es gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG
aufzuheben. Ob es noch weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt,
kann vorliegend dahinstehen. Die Sache ist an das Bundessozialgericht zurückzuverweisen,
das auf der Grundlage der in dieser Entscheidung entwickelten Grundsätze
neu über die Revision der beklagten Krankenkasse zu befinden haben wird.
68
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
69
Papier
Haas
Hömig
Steiner
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem
Bryde
Gaier